Interview: "Wir holen das Büro in den kaufmännischen Unterricht" : Datum:

Das Verbundprojekt PSA-Sim entwickelt eine computerbasierte Bürosimulation, in der angehende Kaufleute authentische berufliche Probleme bearbeiten. Das Projektteam der Universität Mannheim erklärt die Idee dahinter.

Ascot-vet.net: Bitte beschreiben Sie Ihr Projekt in wenigen Sätzen.

Portrait Andreas Rausch
Dr. Andreas Rausch ist Professor für Wirtschaftspädagogik an der Fakultät Betriebs­wirtschafts­lehre der Universität Mannheim © Foto: Anna Logue

Andreas Rausch: Wir entwickeln in unserem Verbundprojekt PSA-Sim eine computerbasierte Bürosimulation für kaufmännische Auszubildende. Zentral dabei ist, dass wir die Lernenden mit komplexen beruflichen Problemen konfrontieren, die sie mit Hilfe bürotypischer Werkzeuge bearbeiten. Die Bürosimulation umfasst unter anderem ein Modellunternehmen mit entsprechenden Daten, wie etwa Kundendatenbanken oder Stücklisten für die Produktion. Enthalten sind außerdem ein Tabellenkalkulationsprogramm sowie ein ERP-System, also ein System zur Unterstützung von Geschäftsprozessen. Die Aufgaben werden in sogenannte Arbeitsszenarien eingebettet.

Lehrkräfte und betriebliche Ausbilder und Ausbilderinnen können auf einsatzbereite Arbeitsszenarien zurückgreifen oder diese nach eigenen Vorstellungen anpassen. Oder sie können – und das würden wir uns perspektivisch sehr wünschen – über eine Autorenumgebung eigene Szenarien erstellen, die dann auch wieder anderen Nutzern und Nutzerinnen zur Verfügung stehen.

Ascot-vet.net: Zu welchem Problem der Berufsbildungspraxis wollen Sie einen Lösungsansatz liefern?

Andreas Rausch: Kaufmännische Arbeitsplätze sind heute überwiegend digitalisiert und verlangen den Umgang mit Software-Werkzeugen. Das bringt einerseits mit sich, dass viele der früheren Routinetätigkeiten in diesen Berufen bereits automatisiert sind oder es in naher Zukunft sein werden. Andererseits wird von Kaufleuten erwartet, dass sie in der Lage sind, komplexe Situationen zu bewältigen. Sie müssen zukünftig vermehrt Probleme oder Ausnahmefälle bearbeiten, die man mit Routine alleine nicht lösen kann. Der Zugang zu solchen Aufgaben ist in der Praxis aber oft eingeschränkt, weil hier das Risiko zu hoch ist, dass Fehler passieren. Das ist vielleicht ähnlich wie bei einem Flugsimulator. Unerfahrene sollten nicht versuchen, ein echtes Flugzeug mit Triebwerkausfall bei Gewitter zu landen. Daher geht es dann erst mal in den Simulator. Mit geringerer Fallhöhe kann man sich das in unserer Bürosimulation auch vorstellen: Hier werden den Auszubildenden Dinge übertragen, an die sie im betrieblichen Alltag oft noch nicht herandürfen. 

Portraitaufnahme Jürgen Seifried
Professor Dr. Seifried lehrt Wirtschaftspädagogik,  Berufliches Lehren und Lernen, an der Universität Mannheim. ©  Foto: Katrin Glückler

Jürgen Seifried: Ein weiterer Punkt ist, dass wir den Unterricht in den beruflichen Schulen noch enger an der betrieblichen Praxis ausrichten wollen, und dabei die Möglichkeit von reflexiven Prozessen eröffnen. Denn diese sind zentral für den Lernerfolg. Hier können wir mit „LUCA“ – so der Name unserer Bürosimulation – eine Brücke schlagen. Mit LUCA holen wir das Büro in den kaufmännischen Unterricht. Namensgeber ist übrigens der Franziskanermönch Luca Pacioli, der von 1445 bis 1514 lebte. Er gilt als Pionier der kaufmännischen Didaktik. Mit der Luca-App zur Kontaktnachverfolgung hat unsere Software nichts zu tun. Wir hatten uns bereits Anfang 2020 für diesen Namen entschieden.

Ascot-vet.net: Wie gehen Sie dabei vor?

Viola Deutscher: Im Projekt wurden insgesamt neun komplexere Arbeitsszenarien entwickelt, die in der Lernumgebung zur Verfügung stehen. Zum einen von uns, zum anderen auch von Lehrkräften und betrieblichen Ausbildern und Ausbilderinnen. Diese betreffen typische Lernplaninhalte, die für Kaufleute relevant sind – in unserem Fall in erster Linie Industriekaufleute und Kaufleute für Büromanagement. Die Szenarien sind „ready to use“. Lehrkräfte können diese für eigene Lernprojekte verwenden und ihre Lernenden per E-Mail einladen. Die Anwendung beginnt in der Regel mit einer E-Mail, die eine bürotypische Problemstellung enthält. Es wird etwa Unterstützung bei Personalausfall oder bei der Auswahl eines neuen Lieferanten angefragt, oder es sind Kalkulationen durchzuführen. Die Auszubildenden können dann die Aufgabe in einem vorgegebenen Zeitraum bearbeiten – je nach Komplexität empfehlen wir etwa 30 bis 40 Minuten. Dabei greifen sie auf umfassende Datenbestände, wie Geschäftskorrespondenz, Kundendatenbanken oder unternehmensinterne Dokumente zurück sowie auf die entsprechenden „Tools“, die die Plattform zur Verfügung stellt – also etwa Tabellenkalkulation oder ERP-System. Die Bürosimulation enthält außerdem Nachschlagewerke oder Lehrmaterialien. Für jedes Szenario können Lehrkräfte selbst entscheiden, in welchem Umfang ihre Auszubildenden daraus zusätzliche Inhalte nutzen dürfen.

Andreas Rausch: Über diese vorgefertigten Szenarien hinaus können Lehrkräfte selbst problemhaltige Aufgaben anlegen. Dazu können sie eigene Kompetenzmodelle definieren sowie die dazugehörigen Bewertungsregeln, um die Qualität der Lösungen mit Blick auf die geforderten Kompetenzen zu beurteilen. Über eine Autorenumgebung lassen sich Aufgaben formulieren, Modellunternehmen anlegen und vielfältige Materialien hochladen. Es können außerdem automatisierte Hilfen erstellt und deren Auslösebedingungen definiert werden. Das alles geht ohne Programmierkenntnisse über die Autorenumgebung, die wie der LUCA-Office für Lernende komplett im Browser läuft.

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Wir ermöglichen handlungs- und problemorientierten Unterricht in einer digitalen Arbeitsplatzsimulation.

Jürgen Seifried

Bei der Erstellung komplexer Szenarien helfen Erklärvideos und Tutorials, und wir unterstützen die Lehrkräfte auch mit Workshops. In diesen geben wir zum Beispiel Empfehlungen, wie ein Kompetenzmodell definiert werden kann, das dem Arbeitsszenario zugrunde liegt. Beim Beispiel „Lieferantenauswahl“ geht es etwa darum, dass die Auszubildenden korrekte Rechenschritte vollziehen und auf diese Weise Daten generieren. Diese Daten interpretieren sie im nächsten Schritt, um anschließend ihre Lösungsvorschläge nachvollziehbar zu kommunizieren. Dabei ist eine Orientierung an Fachsprache und beruflichen Gepflogenheiten wichtig: Es werden also Kommunikationsfähigkeiten, mathematische und argumentative Fähigkeiten gefordert. Um die Qualität der Aufgabenbearbeitung bewerten zu können, lassen sich für verschiedene Kompetenzbereiche Punktwerte vergeben. Dafür legt man im Vorfeld in einem Beurteilungsraster fest, wie hoch welche Aspekte einer Lösung jeweils bewertet werden.

Ascot-vet.net: Welchen Vorteil bietet Ihr Vorhaben für die Praxis?

Jürgen Seifried: Mit LUCA holen wir das praxisnahe Lernen am Arbeitsplatz in den Unterricht. Gleichzeitig wird die vertiefende Reflexion nicht vernachlässigt. Die Anwendung kann sowohl im Präsenzunterricht als auch beim Distance Learning eingesetzt werden, um den Unterricht anzureichern. Die Pandemie hat gezeigt, wie hilfreich solch eine Lösung sein kann. Neben dem synchronen Einsatz im Unterricht oder im Ausbildungsbetrieb funktioniert LUCA auch für asynchrone Schulungsmodelle, wenn also die Interaktion zwischen Lehrkraft und Lernenden zeitlich versetzt stattfindet.

Andreas Rausch: Zwei Vorteile für die Praxis möchten wir hier besonders herausstellen: Zum einen werden die Logdaten, die während der Interaktion der Auszubildenden anfallen, in Echtzeit analysiert. Das nennen wir Problem Solving Analytics oder Problemlöseanalytik. Hierbei wird versucht, Fehler oder ungünstige Problemlösestrategien der Lernenden zu identifizieren, um während der Problembearbeitung zielgerichtet und individualisiert Hilfe anbieten zu können: etwa in Form einer E-Mail mit Zusatzinformationen. Das geschieht entweder automatisiert oder die Lehrkraft kann selbst eingreifen, wenn sie sieht, dass Lernende Probleme mit der Bearbeitung einer Aufgabe haben. Hierzu dient ein integriertes Dashboard, das zentrale Informationen zum Lernfortschritt für die Lehrenden bündelt.

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Lehrende schrecken vor komplexen Aufgaben mit offenen Lösungen oft zurück, weil die Korrektur schwierig und zeitraubend ist. Hierzu haben wir verschiedene Lösungsansätze integriert.

Andreas Rausch

Der zweite Vorteil ist aus unserer Sicht, dass das System nach Abschließen eines Szenarios eine (teil-)automatisierte Auswertung der Ergebnisse anbietet. In diesem Zusammenhang passt der Begriff „Künstliche Intelligenz“. Die Qualität der Lösungen wird auf Basis von Machine-Learning-Algorithmen beurteilt, die wir zuvor anhand der Datenbasis aus unseren Erhebungen anlernen. Wenn Lernende etwa eine Entscheidung für oder gegen eine betriebliche Option begründen sollen, kann das sehr unterschiedlich ausfallen. Das ist sehr typisch für komplexe Problemlöseaufgaben. Liegen von Menschen ausgewertete Lösungen in ausreichender Menge vor, kann ein Algorithmus auf dieser Basis auch ihm unbekannte Lösungen oft sehr gut beurteilen. Damit verringern wir den Aufwand, der für Korrekturen solcher Aufgaben normalerweise sehr hoch ist.

Ascot-vet.net: Wie stellen Sie sich den konkreten Einsatz in der Ausbildungspraxis vor? Welche Rahmenbedingungen sollten dafür gegeben sein?

Jürgen Seifried: LUCA kann sowohl als Lernumgebung im Unterricht als auch für Prüfungen im Sinne von Klassenarbeiten eingesetzt werden. Um mit LUCA zu arbeiten, reichen ein PC oder Laptop mit aktuellem Browser und eine gute Internetverbindung, denn die Anwendung ist webbasiert. Die Internetverbindung in Schulen ist teilweise noch ein limitierender Faktor. Aber wir wollen uns nicht an der Infrastruktur der Vergangenheit orientieren, sondern in die Zukunft blicken. Der Digitalpakt sollte da vieles ermöglichen.

Derzeit läuft die Anwendung bei unserem Softwareentwicklungspartner CAP3 auf deren Servern. Nach Fertigstellung wird LUCA auf Server im Rechenzentrum der Uni Mannheim migriert und dann können alle Schulen, Lehrkräfte und Ausbildungsbetriebe die Software frei nutzen. Das wird ab Oktober 2021 der Fall sein.

Ascot-vet.net: Wie sind die Rückmeldungen aus der Praxis bislang?

Portrait Viola Deutscher
Dr. Viola Deutscher ist Professorin für Wirtschaftspädagogik an der Universität Mannheim. © Fotografin: Anna Logue

Viola Deutscher: Die Rückmeldungen sind bisher sehr positiv. Es gab einige kleinere Pilotstudien mit Lehrerinnen und Lehrern, in denen die Anwendung vorgestellt und erste Szenarien durchgespielt wurden. Zu dem Zeitpunkt wurden von den Teilnehmenden noch einige Funktionen vermisst, die zwar schon geplant, aber noch nicht implementiert waren; aber mit jedem neuen Prototyp wächst momentan der Funktionsumfang an.

Um Lehrkräfte bei der Erstellung komplexer Arbeitsszenarien zu unterstützen und mit der Nutzung von LUCA vertraut zu machen, bieten wir Workshops an und auch einen gewissen Support. Ein umfassender Service gehörte auch zu den Wünschen aus der Praxis, aber eine 24/7-Unterstützung können wir leider nicht bieten; dazu fehlt es schlicht an Mitteln.

Jürgen Seifried: Aus der Praxis wird uns auch bestätigt, dass die bisher verfügbaren Simulationen anderer Anbieter kaum Flexibilität mit Blick auf die Inhalte bieten. Wir bilden mit LUCA die komplette Prozesskette ab: Man kann Szenarien entwickeln, sie bei Lernenden einsetzen und diese begleiten, während sie daran arbeiten. Der Lehrer sieht über ein Dashboard, wer welche Teillösungen erreicht hat und kann in den aktuellen Arbeitsstand einzelner Schüler hineinzoomen. Bei Schwierigkeiten lässt sich direkt Kontakt aufnehmen. Besonders im Fernunterricht ist dies eine besondere Stärke. Und schließlich erhalten Lehrkräfte und Lernende detaillierte Leistungsrückmeldungen.

Ascot-vet.net: Wo sehen Sie Anknüpfungspunkte an Ihr Projekt – für andere Berufe, für zusätzliche Einsatzmöglichkeiten, für weitere Forschung?

Viola Deutscher: Anknüpfungspunkte gibt es für alle kaufmännischen Berufe. Viele Szenarien eignen sich auch allgemein für Berufe, die im Bürobereich angesiedelt sind. Außerdem können Lehr- und Ausbildungskräfte leicht eigene Szenarien erstellen. Für die betriebliche Aus- und Weiterbildung ist LUCA sicherlich ebenso interessant wie für die Hochschullehre. Man könnte auch für BWL-Seminare praxisnahe Szenarien anbieten. Der Vorteil ist, dass das Anforderungsniveau relativ leicht variierbar ist.

Wir hoffen auf Anfragen von Forschenden aus der Berufs- und Wirtschaftspädagogik oder der Psychologie: Für diese könnte interessant sein, dass sich Logdaten aufzeichnen und analysieren lassen. Statt den Blick lediglich auf das Arbeitsergebnis zu richten, wird transparent, wie die Bearbeitungsprozesse abgelaufen sind.

Und schließlich darf man nicht unterschätzen, welche Transferwirkung die Ausbildung der Lehrkräfte hat: Einiges von dem, was an der Hochschullehre gelehrt wird, kommt später in den Schulen an. Wenn die gleichen Personen, die in ihrem Studium mit LUCA zu tun hatten, drei Jahre später vor der Klasse stehen, erinnern sie sich vielleicht daran, wie gut sich problemhaltige Aufgaben im Büroumfeld mit der Software simulieren lassen. Wir würden uns das sehr wünschen.

PSA-Sim

PSA-Sim ist ein Verbundprojekt mit Prof. Dr. Esther Winther von der Universität Duisburg-Essen.

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Ulrike Preuß führte das Gespräch.