Digitale Lernmöglichkeiten für Kfz-Kompetenzen : Datum:

Das Projekt DigiDIn-Kfz möchte mit digitalen Trainings die Fähigkeiten von Kfz-Azubis bei der Fehlersuche an Autos verbessern und virtuelle Tests für Prüfungen entwickeln. Prof. Tobias Gschwendtner erklärt die Vorteile und wie das Projekt vorgeht.

Tobias Gschwendtner
Tobias Gschwendtner ist Professor für Technik und ihre Didaktik an der PH Ludwigsburg. © Privat

Ascot-vet.net: Bitte beschreiben Sie kurz Ihr Projekt.

Tobias Gschwendtner: Das Verbundprojekt DigiDIn-Kfz entwickelt erstens digitale Trainings zur Förderung der Kfz-Diagnosekompetenz und damit verbundener sprachlicher und sozialer Kompetenzen. Die Trainings setzen dabei am individuellen Leistungsstand der Auszubildenden an. Auch die zwischen zwei Auszubildenden erfolgende kollaborative, gemeinschaftliche Kfz-Diagnose wird näher untersucht und ein Verfahren zu deren Erfassung entwickelt. Zweitens entwickelt das Projekt digitale Tests für Kfz-Abschlussprüfungen. Dazu gehört ein Videotest zur Erfassung der Reparaturkompetenz sowie eine für Prüfungszwecke optimierte Computersimulation zur Erfassung der Kfz-Diagnosekompetenz.  

Ascot-vet.net: Für welche Herausforderung der Berufsbildungspraxis wollen Sie einen Lösungsansatz liefern?

Tobias Gschwendtner: Da die betrieblichen aber auch schulischen Lerngelegenheiten oftmals eingeschränkt sind und die Schülerschaft sehr heterogen ist, fordert die Bildungspraxis seit einiger Zeit effektive leistungsdifferenzierte Förderkonzepte. Unsere eigenen Studien zeigen ergänzend: Nur eine kleine Gruppe Auszubildender verfügt am Ausbildungsende über eine curricular und berufspraktisch befriedigende Kfz-Diagnosekompetenz (Nickolaus u.a., 2012).

Diese Studien verdeutlichen zudem, dass die Wahrnehmung, Verarbeitung und Nutzung diagnoserelevanter Informationen (Stichwort: sprachlich-rezeptive Kompetenzen) niveauübergreifend Schwierigkeiten bereiten und – neben einer oft nur unzureichenden mentalen Modellbildung (Stichwort: Entwicklung einer Diagnosestrategie) – maßgebliche Barrieren im Diagnoseprozess darstellen. Ferner wissen wir nur wenig über kollaboratives, gemeinschaftliches Problemlösen der Auszubildenden (Stichwort: soziale Kompetenzen) und wie es gefördert werden kann. Genau an diesen didaktisch gestaltbaren „Stellschrauben“ setzen die von uns zu entwickelnden Trainings an.

Im Prüfungswesen haben unsere Befunde zum Teil erhebliche Objektivitätsprobleme praktischer Prüfungen im Kfz-Handwerk festgestellt. Demnach wirken etwa standortspezifische Prüfungsaufgaben, technologische Einbettungen der Prüfungsaufgaben, die Varianz an expliziten/impliziten Hilfestellungen der Prüfenden sowie die subjektiven Einschätzungen des Ausbildungspersonals über die Prüfungsleistungen als Störfaktoren und vermischen sich mit den tatsächlichen Kompetenzen der Auszubildenden. Wir versuchen für diese Probleme ein Stück weit Abhilfe zu schaffen, indem wir bereits entwickelte digitale Testinstrumente validieren und optimieren, damit sie in der Praxis eingesetzt werden können.

Ascot-vet.net: Wie gehen Sie dabei vor?

Tobias Gschwendtner: Für die Entwicklung der digitalen Trainings wählen wir unterschiedliche methodische Zugänge. Ich will an dieser Stelle beispielhaft erklären, wie wir bei der Entwicklung des Trainings zur Förderung der basalen bzw. der komplexen diagnoserelevanten Rezeptionskompetenz vorgehen. Die basale diagnoserelevante Rezeptionskompetenz umfasst nach unserem Verständnis die Wahrnehmung, Verarbeitung und Nutzung von Informationen in alltagsnahen Textarten, wie Kurztexte, Tabellen, 2/3D-Zeichnungen, wie sie in Diagnosesoftwares der Automobilbranche zu finden sind und bei der Fehlersuche in Fahrzeugen zum Einsatz kommen. Zur diagnoserelevanten Rezeptionskompetenz gehört die Fähigkeit, elektrische Schaltpläne lesen und daraus Hypothesen bilden und prüfen zu können, was bei der Fehlersuche mit Hilfe der genannten Softwares eingefordert wird.

Mann mit Laptop am Auto
Das Projekt analysiert, welche Rezeptionsfähigkeiten Auszubildende benötigen, um Diagnosesoftware nutzen zu können. © iStock / Andrey Popov

Wir haben für die Entwicklung der Trainings zunächst analysiert, welche Rezeptionsfähigkeiten Auszubildende benötigen, um die Diagnosesoftware ESI[tronic], die auch in Abschlussprüfungen zum Einsatz kommt, bei der Fehlersuche nutzen zu können. Um herstellerspezifische Besonderheiten einzubeziehen, führten wir zusätzlich Analysen von Stromlaufplänen unterschiedlicher Hersteller, Modelle und Produktionszeiträume durch. Daraus haben wir einen Test entwickelt, mit dem die Rezeptionsfähigkeiten geprüft werden können, und ließen ihn von ca. 200 Auszubildenden der Kfz-Mechatronik im 3. Lehrjahr aus dem Großraum Stuttgart bearbeiten. Daraus ziehen wir eine Stichprobe von 30 Auszubildenden, die wir im Rahmen sogenannter Cognitive Labs genauer untersuchen: Hierbei lösen die Auszubildenden laut denkend mehrere Fehlerfälle in der bereits aus ASCOT bekannten Kfz-Computersimulation. Wir begleiten die Auszubildenden unter anderem durch Think-Aloud-Protokolle, Desktop-Aufnahmen und nachfolgende Stimulated Recalls; aus den Einzelfällen, die im Schnitt drei Stunden lang beobachtet werden, versuchen wir anschließend, allgemeinere Aussagen zu Rezeptionsbarrieren zu verdichten. Im Anschluss an diese Befundlage und einschlägige Lehr-Lerntheorien werden wir die digitalen Trainings gestalten, diese in mehreren Schritten pilotieren, optimieren und deren Wirksamkeit überprüfen. Alle Produkte (Trainings, Tests etc.) werden in die Ausbildungspraxis mit einem Maßnahmenpaket transferiert, das eine projektbegleitende Wissenschaft-Praxis-Kommunikation (u.a. durch einen Projektbeirat) und Fortbildungen umfasst.

Bei der Optimierung des Videotests zur Erfassung der Reparaturkompetenz für Prüfungszwecke analysieren wir zunächst Schwachstellen im Videomaterial und fertigen teilweise neue Videoschnitte an. Im Anschluss prüfen wir in einer ersten Validierungsstudie bei ca. 100 Auszubildenden ohne Kfz-Kenntnisse, inwieweit zur Lösung der Aufgaben Kfz-spezifische Kompetenzen erforderlich sind. Nach der Optimierung des Videotests prüfen wir mit einer zweiten Validierungsstudie mit 130 Auszubildenden, inwieweit der Videotest mit dem Reparaturverhalten an einem realen Fahrzeug vergleichbar ist. Der Videotest wird dann zusammen mit der Computersimulation so gestaltet, dass beide den Anforderungen im Prüfungsgeschehen gerecht werden, so wird zum Beispiel eine Echtzeitauswertung programmiert; im Anschluss erfolgt ein kontrollierter Einsatz in realen Prüfungen.

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Die digitalen Trainings bieten den Auszubildenden Lernmöglichkeiten, die in der Ausbildungspraxis so meist nicht vorhanden sind.

Tobias Gschwendtner

Ascot-vet.net: Welchen Vorteil bietet Ihr Vorhaben für die Praxis?

Tobias Gschwendtner: Ich sehe gleich mehrere Vorteile: Zum einen setzen wir direkt an Problemlagen der beruflichen Praxis an und entwickeln für die Kfz-Domäne erstmalig digitale Lehr-Lern-Medien zur differenziellen Förderung wichtiger Kompetenzfacetten, die bislang nur unbefriedigend über die Ausbildungszeit entwickelbar sind. Zum anderen entwickeln wir Prüfungsformate, die deutlich stärker als bisher wissenschaftlichen Gütekriterien entsprechen dürften und gleichzeitig den Aufwand für die Prüfung reduzieren.

Die digitalen Trainings bieten den Auszubildenden Lernmöglichkeiten, die in der Ausbildungspraxis so meist nicht vorhanden sind, da die Auszubildenden häufig nur den Fehlerspeicher von Steuergeräten auslesen dürfen und die eigentliche Fehlersuche in der Hand des Gesellen bzw. Spezialisten liegt. In der beruflichen Schule oder den überbetrieblichen Ausbildungsstätten bestehen meist auch nur begrenzte Möglichkeiten zur Kompensation. Die Auszubildenden haben diese fehlenden Lerngelegenheiten bei den Gesprächen im Rahmen der Cognitive Labs oftmals kritisiert. Ferner ermöglichen solche digitalen Lernmedien orts- und zeitungebundenes Lernen, das zudem durch den hohen Standardisierungsgrad die Ausbildungsqualität insgesamt verbessern kann. 

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Die digitalen Trainings können ohne Einschränkungen überall verwendet werden, also in Betrieben, überbetrieblichen Bildungseinrichtungen und beruflichen Schulen, eventuell auch in privater Nutzung durch die Auszubildenden.

Tobias Gschwendtner

Ascot-vet.net: Wie stellen Sie sich den konkreten Einsatz in der Ausbildungspraxis vor? Welche Rahmenbedingungen sollten dafür gegeben sein?

Tobias Gschwendtner: Ich gehe davon aus, dass unsere digitalen Trainings auf Grund ihres selbsterklärenden Charakters nur minimale zeitliche sowie personelle (Vorbereitungs-)Aufwände erfordern und der Einfluss der unterschiedlichen Lehrenden minimiert wird. Die digitalen Trainings bieten vielfältige, in der Komplexität variierende Übungsmöglichkeiten, die durch individuelle Erfolgsrückmeldungen und auf das Übungsverhalten reagierende Instruktionselemente wie Erklärvideos oder Tutorials begleitet werden.

Die digitalen Trainings können ohne Einschränkungen – bis auf die Verfügbarkeit einigermaßen moderner Computer oder Tablets – und ohne spezifische Rahmenbedingungen überall verwendet werden, also in Betrieben, überbetrieblichen Bildungseinrichtungen und beruflichen Schulen, eventuell auch in privater Nutzung durch die Auszubildenden. Einzig die leistungsgerechte Zuordnung der Auszubildenden zu den Trainings erfordert einen diagnostischen Aufwand, der allerdings durch von uns entwickelte Testeinheiten und Auswertungsmanuals überschaubar ist.

Da wir für die meisten Prüfungsbereiche noch nicht so weit sind, dass akzeptable und akzeptierte digitale Testinstrumente für Kfz-Mechatroniker/-innen vorliegen, müssen bei ihrem Einsatz in der Prüfungspraxis noch ergänzend auch die regulären Prüfungsarchitekturen (wie Prüfstationen, Prüfer/-innen etc.) mitlaufen; die digitalen Testinstrumente benötigen am Prüfungsort natürlich auch eine abgeschirmte Computerarbeitsplatzarchitektur mit hoher Datensicherheit.

Ascot-vet.net: Wie sind die Rückmeldungen aus der Praxis bislang?

Tobias Gschwendtner: Auf Grund der aktuellen Coronasituation (Stand: Juni 2020) werden wir leider erst in den nächsten Wochen intensivere und vor allem systematische Rückmeldungen aus der Praxis im Rahmen unserer Projektbeiratssitzungen bekommen. Der Projektbeirat besteht aus Vertreter/-innen der Innungen, Prüfungsausschüsse, Handwerkskammern, beruflichen Schulen und Kfz-Meistern mit eigenem Kfz-Betrieb. Die bislang eher unsystematisch erfolgten Rückmeldungen im Rahmen unserer Erhebungen an den Schulen und die dort geführten Gespräche mit Auszubildenden und Lehrenden sowie einigen Ausbilder/-innen lassen eine hohe Praxisrelevanz der Projektinhalte und eine hohe Wertschätzung erkennen.

Ascot-vet.net: Wo sehen Sie Anknüpfungspunkte an ihr Projekt – für andere Berufe, für zusätzliche Einsatzmöglichkeiten, für weitere Forschung?

Tobias Gschwendtner: Es bieten sich vielfältige Anknüpfungspunkte: Zum Beispiel könnten durch die empirische Evaluation der Trainings Erkenntnisse dazu gewonnen werden, wie soziale und sprachliche Kompetenzen in berufsfachlichen Kontexten gefördert werden können, woraus wiederum Impulse für die Gestaltung von Curricula, also für die Ordnungsarbeit resultieren können.

Unsere Projektinhalte zur basalen und komplexen Rezeptionskompetenz, zur Entwicklung mentaler Modelle beim Entwerfen einer Diagnosestrategie sowie zum kollaborativen Problemlösen sind mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf andere Berufsfelder wie jene der Elektrotechnik übertragbar. Gegebenenfalls könnten die Projektinhalte mit relativ geringen Aufwänden adaptiert werden. Dies wäre allerdings abschließend vor allem eine empirische und damit eine Forschungsfrage.

Literaturangabe:

Nickolaus, R., Abele, S., Gschwendtner, T., Nitzschke, A., & Greiff, S. (2012). Fachspezifische Problemlösefähigkeit in gewerblich-technischen Ausbildungsberufen. Modellierung, erreichte Niveaus und relevante Einflussfaktoren. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 108(2), 243–277.

DigiDIn-Kfz

DigiDIn-Kfz ist ein Verbundprojekt mit Prof. Dr. Stephan Abele (Technische Universität Dresden) und Dr. Inga Frey (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg).

Mehr Informationen zu DigiDIn-Kfz

Benjamin Dresen führte das Gespräch.